Am 6. Mai 2025 hat die Advanced Foresight Group eine erste Online-Veranstaltung zur Zukunft der chemischen Industrie und verwandter Branchen durchgeführt. Unter den Gästen waren zahlreiche Branchenvertreter, darunter Carsten Franzke Geschäftsführer der SKW Stickstoffwerke Piesteritz, den wir für die initiale Keynote gewinnen konnten.
Kompass durchs Periodensystem
Er konstatiert, dass wir vor einer hochkomplexen wirtschaftlichen Transformation stehen, die Industrie, Chemie und Gesellschaft gleichermaßen betrifft. Die SKW Stickstoffwerke Piesteritz betrachtet er in diesem Wandel als „Kompass durchs Periodensystem“ – der mit realistischer Zielorientierung und wissenschaftlicher Präzision zur Transformation beiträgt. Als Teil des Agrofert-Konzerns bekennt sich SKW zum Standort Deutschland, während Wettbewerber ihre Produktion ins Ausland verlagern. Die Grundstoffchemie ist aus seiner Sicht unverzichtbar für die moderne Versorgung, für die Ernährung und für Resilienz. In Deutschland hängen 2,4 Millionen Arbeitsplätze und 240 Milliarden Euro jährlicher Wertschöpfung direkt oder indirekt an der Chemie. Scharf kritisiert er die aktuellen energiepolitischen Rahmenbedingungen, die die Wettbewerbsfähigkeit und den Standort gefährden. Deshalb fordert er die sofortige Abschaffung nationaler Sonderlasten wie Stromsteuer und Netzentgelte. SKW Piesteritz hat bereits 400 Millionen Euro in nachhaltige Transformation investiert. Langfristig möchte er das Unternehmen vom CO2-Emittenten zur CO2-Senke weiter entwickeln. Für ihn sind Wohlstand, Resilienz und effektiver Klimaschutz nur mit einer starken, in Deutschland ansässigen chemischen Industrie möglich. Er hebt hervor, dass Transformation wirtschaftliche Realitäten anstelle ideologischer Konzepte benötigt.
Herausforderungen der Branche
Auch die Analysen der Advanced Foresight Group belegen, dass die chemische Industrie in Deutschland und Europa vor gewaltigen Herausforderungen steht. Wachsende Energiepreise, fehlende Versorgungssicherheit beim Erdgas, bei Vorprodukten und Rohstoffen, die nicht aus Europa kommen, ein wachsender politischer und rechtlicher Druck zur Dekarbonisierung und zur Deindustrialisierung, die steigenden Regulierungskosten, hohe Investitionsnotwendigkeiten zur Förderung der Kreislaufwirtschaft, den Umstieg auf Wasserstofftechnologien und den Ausbau grüner Chemie, treffen auf eine sinkende gesellschaftliche Akzeptanz. Langwierige und teure Zulassungsverfahren und eine Chemikalienverordnung, die zwar Mensch und Umwelt schützen können, sind so verfasst, dass sie zugleich Innovationen verhindern und Markteinführungen erschweren.
Unerlässlich um die Wettbewerbsfähigkeit der Chemie in Deutschland zu erhalten, sind Innovationen und Investitionen in Technologien und Nachhaltigkeit begleitet durch einen verlässlichen politischen Rahmen und eine aktive Industriepolitik. Tatsächlich möchte die neue Bundesregierung Deutschland zum weltweit innovativsten Chemie-, Pharma- und Biotechnologiestandort machen. Dazu soll eine Chemieagenda 2045 beitragen, die gemeinsam mit den Ländern, der Industrie und den Gewerkschaften entwickelt werden soll. Tatsächlich ist die chemische Industrie für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die wirtschaftliche Entwicklung Europas unverzichtbar. Produktionsverlagerungen hätten tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Auswirkungen mit möglichen Preisschocks für die Industrie und Wohlstandsverluste für die Bevölkerung.
Die Unterbrechung globaler Lieferketten infolge der Sperrung internationaler Wasserstraßen, Produktionsausfälle infolge von Naturkatastrophen sowie globale Pandemien verdeutlichen die Relevanz deutscher und europäischer Chemiestandorte, auf Produktionsbetriebe, Energieversorger, Logistik und Mobilität, Bau und Infrastruktur ebenso wie auf die Gesundheitsversorgung und die Landwirtschaft. Zudem ist die Chemie Innovationstreiber bei der Entwicklung der Kreislaufwirtschaft, einer optimierten Wasserwirtschaft, einer nachhaltigen Energiewirtschaft, der Entwicklung neuer Werkstoffe sowie neuer Lösungen für das Gesundheitssystem. Sie sichert wirtschaftliche Stabilität und technologische Souveränität.
Branchenfokus der Advanced Foresight Group
Auf diese komplexen Aufgabenstellungen möchten wir mit kleinen und prägnanten Veranstaltungsformaten antworten. Bei denen wir über Trends, mögliche Impacts, bedrohliche Entwicklungen, wünschenswerte Zukünfte oder relevante blind Spots sprechen und Methoden und Prozesse vorstellen, die taktische und strategische Schritte zur Transformation fördern und unterstützen.
Dazu haben wir bei unserer Auftaktveranstaltung in Break-Out-Sessions entlang von zwei zentralen Schlüsselfaktoren und vier Ad hoc-Szenarien für das Jahr 2040 gesprochen. Szenarien, die Expert:innen und Literatur gestützt weiter- oder neuentwickelt werden können, um taktische und strategische Optionen zu identifizieren und wirksam ins Handeln zu kommen.
Szenario 1:
Fortschritt im Regelwerk – Innovation unter Aufsicht
Hohe technologische Entwicklungsgeschwindigkeit – restriktive Regulierung
Im Jahr 2040 ist die Welt geprägt von einem tiefgreifenden Strukturwandel. Die technologische Entwicklung hat ein atemberaubendes Tempo erreicht: KI-gestützte Systeme, autonome Produktionsketten und intelligente Infrastrukturen sind Alltag – zumindest dort, wo ihr Einsatz erlaubt ist. Denn die Regulatorik wurde in anderen Regionen massiv verschärft. Staaten und supranationale Institutionen setzen auf dichte, fein abgestimmte Rahmenwerke, um Technologie gesellschaftlich einzuhegen – mit dem Ziel, Risiken zu minimieren, Nachhaltigkeit zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu fördern.
Szenario 2:
Chemie – Herzstück einer technologisch vernetzten Kreislaufwirtschaft
Hohe technologische Entwicklungsgeschwindigkeit – freizügige Regulierung
Im Jahr 2040 hat sich die chemische Industrie in Deutschland grundlegend gewandelt. Angetrieben von technologischen Durchbrüchen und einer mutigen, innovationsfreundlichen Regulatorik ist sie global zum Taktgeber einer neuen industriellen Ordnung geworden – eingebettet in ein leistungsfähiges Ökosystem aus IT, Biotechnologie, Energie- und Logistikdienstleistungen. Der weltweite Naturverbrauch wurde deutlich verringert, weil praktisch alles ressourcenschonend wieder aufbereitet und erneut genutzt werden kann.
Szenario 3:
Ohne Anziehungskraft – die stille Krise der deutschen Chemie 2040
Langsame technologische Entwicklungsgeschwindigkeit – freizügige Regulierung
Im Jahr 2040 steht die chemische Industrie in Deutschland vor fast unüberwindlichen Herausforderungen. Fachkräfte werden dringend benötigt, doch Talente wandern in andere Branchen und ins Ausland ab, weil sie dort mehr bewegen und erreichen können. Der Umbau in Richtung auf Kreislaufwirtschaft, Wasserstofftechnologie und grüne Chemie kam nicht voran. Die Branche kämpft mit tiefgreifenden Imageproblemen, die ihre Innovationskraft weiter schwächen, während Unternehmen aus Asien im Markt an Bedeutung gewinnen.
Szenario 4:
Erstarrt im Regelwerk – zwischen Stillstand und Hoffnung
Langsame technologische Entwicklungsgeschwindigkeit – restriktive Regulierung
Im Jahr 2040 lastet ein schwerer Dunst der Stagnation auf der chemischen Industrie in Deutschland. Die einst blühende Branche kämpft mit einer Flut von Regularien und Bürokratie, die jede Bewegung hemmen wie zäher Klebstoff. Steigende Kosten und langwierige Zulassungsverfahren haben die Innovationskraft der Branche erstickt, während der internationale Wettbewerb mit großen Schritten davonzieht. Die jungen Talente des Landes wenden sich ab, denn die chemische Industrie ist nur mehr ein Relikt vergangener Zeiten.
Fünf Handlungsempfehlungen
bei denen wir von der Advanced Foresight Group Sie beraten und unterstützen können:
- Fachkräftesicherung zur strategischen Kernkompetenz machen
– mit Fokus auf fachlichen und systemischen Kompetenzen, Nachwuchsbindung durch Begeisterung und Chancen, neue Aus- und Weiterbildungskonzepte - Innovationsfähigkeit trotz oder durch Regulierung stärken
– durch eine ausgeprägte und zugleich schlanke Innovationskultur, dynamische Innovationsprozesse, interne Agilität und kundenorientierte Ko-Kreation - Proaktives Regulierungsmanagement aufbauen
– Kompetenzaufbau für Legal Foresight, transparente Lobby- und Informationsarbeit für Politik und Verwaltung, strategisches Compliance-Management - Neue Image- und Kommunikationsstrategie entwickeln
– Entwicklung neuer Narrative zur Bedeutung der Chemie, verstärkte Sichtbarkeit ihrer Funktion in der Öffentlichkeit, gestärktes Employer Branding - Zukunftsrobuste Standort- und Innovationsstrategie realisieren
– Nutzung struktureller Vorteile, Bündelung mit regionaler Infrastruktur, Nähe zu Märkten, Ko-Kreation im Verbund der Chemie und ihrer Lieferanten und Kunden